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Beitrag vom 05.11.2009
Hungerstreik aus Protest gegen den Umgang des Berliner Entschädigungsamtes mit Verfolgten des NS-Regimes
Adriana Stern
Peter Finkelgruen, deutsch-jüdischer Journalist und Schriftsteller aus Köln, ist am 2. November in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Darin sieht er nach jahrelangem Kampf die einzig noch...
...verbleibende Möglichkeit, gegen das Unrechtssystem des Berliner Entschädigungsamtes gegenüber den Opfern des NS- Regimes zu protestieren.
Am 9. November, dem Gedenktag für die "Reichskristallnacht" von 1938, will Peter Finkelgruen am Stelenfeld des Berliner Holocaust-Mahnmals die Begründung für seinen Hungerstreik öffentlich machen.
Das Entschädigungsamt ist zuständig für die Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus', abgekürzt PrVG. Finkelgruen wurden körperliche wie psychische Schäden als Folge seiner traumatischen Erlebnisse als Kleinkind im jüdischen Getto Schanghai diagnostiziert, wo Finkelgruen 1942 zur Welt kam. Seine von den Nazis verfolgten Eltern waren dorthin geflüchtet.
Das Entschädigungsamt verweigerte schon 1969 die Zahlung der Medikamente und Krankenhausaufenthalte Finkelgruens mit dem Argument: "Es sei zu bedenken, dass der Antragsteller als Säugling im Getto Shanghai überhaupt noch nicht über eine derartige Bewusstseinslage verfügte, dass er überhaupt hätte neurotisch reagieren können." Heute erklärt das Amt, Finkelgruens Herzinfarkt hätte "zeitnah" zur Schädigung als Kleinkind stattfinden müssen. Und deshalb ist diese Behörde nicht dazu bereit, die Kosten in Höhe von 15.000 Euro zu übernehmen.
Des Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 22. Februar 2001 ( IX ZR 113/00 ) folgendes ausgeführt:
"Der Zweck der Entschädigungsgesetzgebung geht dahin, das zugefügte Unrecht so bald und so weit wie irgend möglich wieder gutzumachen. Der Senat hat deshalb wiederholt betont, daß eine Gesetzesauslegung, die möglich ist und diesem Ziel entspricht, den Vorzug gegenüber jeden anderen Auslegung verdient, die die Wiedergutmachung erschwert oder zunichte macht" (vgl. BGH, Urtl V 1.Dezember 1994 aaO zu2).
Doch daran hält sich die Behörde weder bei Peter Finkelgruen noch bei vielen anderen NS- Verfolgten, denn der Umgang mit dem Journalisten ist kein Einzelfall. Der deutsch- jüdische Autor kann belegen, dass weitere NS- Verfolgte genau wie er nie über ihre Ansprüche nach § 141a ff BEG aufgeklärt wurden und ihnen demzufolge große finanzielle Schäden entstanden sind.
Das Vorgehen des Entschädigungsamtes Überlebenden der NS- Verfolgung gegenüber wurde spätestens seit dem Buch "Kleinkrieg gegen die Opfer" von Christian Pross vom Hamburger Institut für Sozialforschung der Öffentlichkeit bekannt. Dieses Buch erschien im Jahr 1991, doch geändert hat die Behörde ihre Methoden seitdem nicht.
Allein der Sprachgebrauch dieser Behörde dokumentiert ihre Unmenschlichkeit und kann nur als verachtend, brutal und zutiefst menschenfeindlich bezeichnet werden. So werden im Geschäftsbericht 2008 die wesentlichen Leistungsdaten und Ergebnisse der "wirkungsorientierten ganzheitlichen Steuerung des Amtes" dargelegt, mitsamt einem "Zahlenteil für die wichtigsten Produkte". Die Zahl der "kompetent und flexibel" behandelten "Kundinnen und Kunden" dieser Behörde mit "strategischem Zielfeld" nahm zwischen 2004 und 2008 rapide von 7.165 auf 5.500 ab.
Die "PrVG" (Naziverfolgten) werden in der Statistik der Behörde als "Produkte" mit "Stückpreis" bezeichnet und das oberste Ziel ist, möglichst viel Geld einzusparen und die Opfer des NS- Regimes möglichst lange und möglichst brutal hinzuhalten, bis sich die Zahlung von selbst erledigt, weil die Anspruchsberechtigten gestorben sind.
Dank der "Wirtschaftlichkeit bei diesem Produkt" ist nicht nur Peter Finkelgruen von der Hilfe für Geschädigte des Nazi-Regimes ausgeschlossen, sondern ein ganzes bürokratisches System ist offensichtlich nur darauf angelegt worden, Zahlungen an die Überlebenden des NS- Regimes möglichst effektiv und im wahrsten Sinne des Wortes nachhaltig zu verweigern.
Aus einem Brief von Finkelgruen an den Behördenchef Jürgen Raabe:
"Zu den Methoden des Entschädigungsamtes gehört durchaus, Verfahren auf die lange Bank der Rechtssprechung zu schieben, wobei Alter und Krankheitsstand der Berechtigten unberücksichtigt bleiben. Ihr Ableben während des zermürbenden Kampfes um ihre Rechte wird offenbar in Kauf genommen. Ich habe ein Jahrzehnt meines Lebens gebraucht, um den Mörder meines Großvaters vor Gericht zu bringen. Ich will nicht die letzten Jahre meines Lebens damit verbringen, gegen das Fehlverhalten Ihrer Behörde anzugehen."
Seinen persönlichen Forderungen ist die Entschädigungsbehörde aufgrund des Hungerstreiks und der zunehmenden Öffentlichkeit und des großen politischen Drucks offenbar am 4. November 2009 nachgekommen. Peter Finkelgruen hat sich aber dazu entschlossen, solange im Hungerstreik zu bleiben, bis diese Entscheidung für alle gilt und alle Überlebenden der NS- Verfolgung endlich entschädigt werden.
Finkelgruen: "Ich bin überzeugt, dass diese Situation einer grundsätzlichen Überprüfung und Änderung bedarf und zwar nicht nur in meinem persönlichen Falle. Ich möchte die Öffentlichkeit dazu aufrufen, auf eine solche Überprüfung und Änderung, solange es noch die wenigen überlebenden Opfer gibt, zu dringen.”
Die Verfasserin dieses Beitrags, Adriana Stern, kann sich Peter Finkelgruen nur anschließen, erkläre mich mit ihm solidarisch und bittet alle Leserinnen und Leser, dies auch zu tun, indem Sie eine Petition richten an:
Den Innensenator von Berlin Herr Ehrhardt Körting, Senatsverwaltung für Inneres und Sport – I E 2 -, Klosterstr. 47, 10179 Berlin.
Weitere Infos zur Autorin Adriana Stern finden Sie unter:
www.adriana-stern.de
Weitere Berichte zum Thema finden Sie unter:
www.hagalil.com/archiv/2009/11/01
www.hagalil.com/archiv/2009/11/04
www.tagesspiegel.de